Was wenn der Umgang mit den operativen Folgen der weltweiten Pandemie plötzlich das kleinste Problem ist?

WIRECARD ist sicherlich einer der spektakulärsten Wirtschaftskrimis der Nachkriegszeit – mitten in der Corona-Krise.

Wer das aus der Innensicht miterlebt hat, ist sicherlich geprägt fürs Leben. Annegret Jansen war in führender Position in HR bei Wirecard – wir von Breitenstein Consulting begleiteten Wirecard zu dieser Zeit in einem Projekt.
Hier ein Blick auf HR in der ultimativen Krisensituation und ein paar ganz konkrete Lehren.


Das ultimative Schreckensszenario

Mit der weltweiten Pandemie und den sich anschließenden wirtschaftlichen Auswirkungen sind manche Unternehmen plötzlich mit dem „Endgegner“ Insolvenz konfrontiert. In den letzten Jahrzehnten war das eher ein Schreckensszenario, das Personaler theoretisch kennen, aber die Wenigsten tatsächlich selbst miterlebt haben. Eine Insolvenz kündigt sich normalerweise in irgendeiner Form an -Zahlen sind schlecht, man hört Gerüchte, die Stimmung im Unternehmen ändert sich, Mitarbeiter*innen spüren, dass etwas nicht stimmt.  Oftmals hilft die Presse mit Mutmaßungen nach, die Gerüchteküche explodiert dann förmlich, Geschäftsführer dementieren, aber es gibt verdächtige ‚absichernde‘ Aktivitäten, Mitarbeiter*innen haben alle Antennen ausgefahren – es gibt kaum mehr Fokus auf irgendein anderes Thema im Unternehmen.

Dann der Schock: Man erfährt ihn in den meisten Fällen zunächst aus den externen Medien: Insolvenz wurde beantragt und der eigene Vorstand sitzt im Gefängnis.  Verwirrung, keine wirklichen Stellungnahmen von den zuständigen Entscheider*innen an denen man sich orientieren könnte – ein Führungsvakuum wird spürbar. Jede Aussage vom Top-Management ist jetzt juristisch heikel. Erste Panikreaktionen, mancher spielt auch demonstrativ Normalität – ein Zeichen für die Verweigerung der Realität. Da gibt es zum einen die Kolleg*innen, die völlig geschockt sind, unfähig klar zu denken und diejenigen, die hoffen, dass sie das alles gerade nur träumen. Oder es gibt Kolleg*innen, die sofort wahllos 20 Bewerbungen rausschicken.

Mitarbeiter*innen suchen den Weg in die Personalabteilung. Wer repräsentiert das Unternehmen, wenn sonst keiner mehr da ist? Wen kann man ansprechen mit den Fragen, die jetzt allen unter den Nägeln brennen? Es gibt in dieser Situation zwei Arten von Führungskräften: diejenigen die Initiative ergreifen, ihre Leute um sich scharen und ihr Bestes geben und kämpfen – und dann gibt es Führungskräfte, die von ihrer eigenen Frustration und Angst so überwältigt sind und sich kaum mehr um ihr Team oder das Business kümmern. Diejenigen laufen Gefahr, ihre Rolle als Arbeitgebervertreter*innen zu vergessen.

Eine Insolvenz betrifft JEDEN UND JEDE im Unternehmen. HR ist eine der ersten Anlaufstellen im Unternehmen. Wie also reagieren, wenn man als Personaler selbst keine Informationen hat? Oberstes Gebot ist erstmal Ruhe bewahren und verbreiten. Sich der eigenen Emotionen bewusstwerden, reflektieren und zuhören, ansprechbar sein für Kollegen und Führungskräfte.

Fragen, die zweifelsohne kommen und auch wenn sie vorerst nicht beantwortet werden können, sollten erstmal demonstrativ entgegengenommen werden. Die Wirecard hatte dazu zB. zügig ein spezielles Emailpostfach eingerichtet. So konnten die Fragen professionell entgegengenommen, strukturiert, sortiert und kanalisiert werden. Typische Fragen lauten:  Bekommen wir Gehalt? Was passiert mit meinen Urlaubstagen? Wie geht es weiter?

Viele Dinge liegen arbeitsrechtlich auf der Hand. Wichtig ist jetzt Vertrauen zu schaffen. Das macht man indem man viel und offen kommuniziert, ehrlich ist, nichts beschönigt aber auch keine Panik ausstrahlt. Nichts zerreden, sondern einfach präsent sein, Empathie zeigen, Haltung bewahren.

Die Insolvenzmaschine läuft an

Wird dem Antrag auf Insolvenz stattgegeben, wird ein/e vorläufige/r Insolvenzverwalter/in bestellt, der/die ab diesen Zeitpunkt das Zepter in der Hand hat. Seine/ihre Hauptaufgabe besteht darin, das Unternehmen „durchzuscannen“ und so viel Geld wie möglich aufzutreiben, damit die Gläubiger*innen ihre ausstehenden Zahlungen bekommen und nicht noch weiterer Schaden für verbleibende Teile des Geschäftes entstehen. Die Aktivitäten der Insolvenzverwalter*innen sind nicht immer transparent – das schafft weiteres Misstrauen. Aber sie sind auch erstmal im Interesse der Mitarbeiter*innen als vorrangige Gläubiger*innen. Der/die Insolvenzverwalter/in versucht so viel wie möglich zu retten, damit der Betrieb aufrechterhalten werden kann. Das wissen viele Mitarbeiter*innen jedoch schlichtweg nicht – er oder sie wird als Gegner/in empfunden. Dass dem nicht so ist, gilt es klarzustellen. Ein/e Insolvenzverwalter/in hat oft nicht viel Zeit, um zu kommunizieren – hier kann HR eine sehr wichtige Treuhandfunktion übernehmen: FAQ’s miteinander abstimmen und MA informieren, Empathie zeigen und wieder demonstrativ Haltung bewahren.

HR hat in dieser Phase auch eine ganz formale Hauptaufgabe: Daten in verschiedensten Varianten und Tiefen für den/die Insolvenzverwalter/in bereitzustellen und aufzubereiten. . Ein Dilemma entsteht, welches als sehr belastend empfunden werden kann: Einerseits ist man, wie alle anderen im Unternehmen, mit allen Konsequenzen einer Insolvenz betroffen, muss sich aber andererseits um einen geordneten und strukturierten Ablauf der Insolvenz kümmern. Man stellt sich die Frage:    ich überhaupt noch Geld für die Arbeit, die jetzt leiste? Sollte ich mich nicht auch erstmal um meine persönlichen Belange kümmern, anstatt hier Abendschichten zu schieben und Datensätze zu bearbeiten?  Diese Fragen nehmen Raum ein und lassen keinen Platz für die eigenen Emotionen und Ängste.

In der Belegschaft kommt nach dem ersten Schock irgendwann Wut und Aggression auf. Schuldzuweisungen in alle Richtungen. Warum ist die eigene Führungskraft so hilflos, so uninformiert. Wieso ist HR nicht besser informiert? Die Frustration wächst. Für einige Mitarbeiter*innengruppen stellen sich spezielle Fragen: Etwa ausländische Kolleg*innen, die bei einem Arbeitsplatzverlust um ihr Visa bangen müssen. Oder Mitarbeiter*innen in Elternzeit, die sich melden und versunischert sind. Viele Einzelfälle gilt es nun zu bearbeiten. Die Tage sind geprägt von spontanen Datenabfragen, Eigenkündigungen von Mitarbeiter*innen und unzähligen Anrufen und Emails mit Detailfragen zur individuellen Situation der Mitarbeiter*innen. Tendenziell kommen von dem/der Insolvenzverwalter/in keine befriedigenden Antworten zur wünschbaren Zukunft und man erkennt, dass Insolvenzrecht ein komplexes Universum ist und nichts Zufriedenstellendes liefert, dass Klarheit zur eigenen Zukunft schafft. Wie bei einer unklaren medizinischen Diagnose: Googlen hilft erstmal keinem Laien und kann sogar die Frustration nur noch mehr steigern. Deshalb ist es so wichtig, dass man die Fragen, die man beantworten kann, auch offensiv beantwortet. Jedes kleine Stück Klarheit über einen Ablauf, nächste Schritte, einen weiteren Termin schafft ein Stück psychologische Sicherheit. Etabliert haben sich offen zugängliche FAQs wo man wiederkehrende Fragen gut bündeln kann und auch regelmäßig ergänzt, wenn es neue Informationen gibt. Am besten im Intranet, aber auch proaktiv als E-Mail an alle, falls Mitarbeiter freigestellt wurden oder schon selbst gekündigt haben (Achtung: jede Kommunikation mit dem/der Insolvenzverwalter/in abstimmen). Auch hier zählt Geschwindigkeit, indem man vor der Gerüchtewelle surft (anstelle von ihr begraben zu werden)!

Aktivität gegen Unsicherheitsgefühle

Partizipation schafft Selbstwirksamkeit erzeugt Sicherheit. Viele kennen den Effekt vom Rafting: Wenn man in einem Schlauchboot einen Fluss herunter treibt, muss man Rudern, um schneller als das Wasser sein und das Boot steuern zu können. Diese Aktivität muss ebenfalls koordiniert sein. Dabei entwickeln Menschen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das stärkt und jede/n Einzelne/n sicher macht. Diese alte Change-Formel gilt auch hier: Menschen aktivieren. Es gibt gerade in einem Insolvenzverfahren sehr viel Administratives zu erledigen. Ob nach innen oder nach außen in Richtung Markt, Kunden, Lieferanten. Menschen, die ihr aufgestautes Adrenalin für Aktivitäten verwenden, sind weniger aggressiv und sicherer als diejenigen, die auf ihrem Arbeitsplatz brüten. Diese Energie gilt es zu nutzen. Das heißt, eine To-do-Liste mit dem/der Insolvenzverwalter/in durchsprechen und dann „Manpower“ finden, delegieren und die Menschen motivieren! Auch wenn man Kund*innen und Lieferant*innen keine zufriedenstellenden Antworten geben kann, ist doch der Kontakt und das offene Ohr wichtig, um die Empathie, die man sich in dieser Situation selbst wünscht, vorzuleben. Die Erfahrung zeigt, dass ein solches Verhalten das Verständnis und die Toleranz des unternehmensrelevanten Umfelds erhöht.

Schlüsselkompetenzen halten – Führungskräfte in die Pflicht nehmen

Klar ist allen: In dieser Situation kann für nichts garantiert werden. Das Betrifft die unmittelbare und die langfristige Zukunft. Gerade die Leistungsträger*innen finden auch in der Krise schnell neue Jobs und werden meist schnell von Headhunter*innen angesprochen. Eine Abwerbung eines bzw. einer kritischen Expert*in kann oftmals das Ende eines Unternehmens weiter besiegeln. Insolvenzverfahren schützen viele verwundbare Stellen in einem Unternehmen – aber eben nicht diese. Es ist eine wichtige Aufgabe für HR, da ein wenig Entspannung reinzubringen. Denn diese Leistungsträger*innen sind auch sehr wichtige Motivator*innen für die restliche Belegschaft. Das heißt konkret: Träger*innen von Schlüssel Know-how identifizieren. Das müssen nicht immer Führungskräfte sein. Für diese Menschen gilt es einen Plan zu machen: wer spricht mit ihnen – wer hält Kontakt? Den Führungskräften muss man diese Rolle bewusst machen und sie bei Bedarf auch selbst unterstützen, wie sie genau mit ihren Teams sprechen können und was sie sagen dürfen, und was nicht. Ziel muss sein, dass keine Panik oder blinder Aktionismus ausbricht. Ein wichtiges Argument gegen Fluchtbewegungen ist, dass man klar macht, dass die guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt so schnell nicht weg sein werden. Dass eine Zäsur wie diese vielleicht erstmal zur Selbstreflektion genutzt werden kann. Und dass es sich möglicherweise lohnt, für das Unternehmen zu kämpfen und sich dies später auch individuell auszahlen kann. In der Krise zeigen  sich oft starke Charaktere mit Führungspotenzial. Eine wichtige Botschaft!

Eine Prüfung auch für HR als Team

Ein Insolvenzverfahren ist auch eine Herausforderung für HR als ganzes Team. Transparenz ist hier der Schlüssel. Nichts wird als schlimmer empfunden, als wenn eigene Kolleg*innen innerhalb des Teams mehr Informationen haben als man selbst. Das schürt sofort Ängste, Sorgen und gegenseitiges Misstrauen. Daraus entstehen Gerüchte, die Motivation lässt weiter nach. Damit das HR Team vollends funktionieren kann, muss also für maximale Transparenz gesorgt werden. Jede/r muss wissen, welche Neuigkeiten es gibt (auch, wenn es KEINE gibt), denn jede/r wird von den unterschiedlichsten Mitarbeiter*innen angesprochen. Jede/r bekommt auch unterschiedliche Stimmungslagen der Belegschaft mit. HR muss ein sicherer Hort für zuverlässige Informationen werden. Information im Team zu verbreiten  kostet zusätzliche Zeit. Ein 15-minütiges Sprint-Meeting jeden Morgen kann dabei ein essenzieller Erfolgsfaktor sein. Hier können auch neue Aufgaben schnell koordiniert werden.

Viele Mitarbeiter*innen benötigen sofort ein Zwischenzeugnis oder andere Dokumente. Auch hier müssen Kolleg*innen aus anderen HR Bereichen helfen. Schreibt man unter normalen Umständen in der HR-Abteilung an die rund 20 Zeugnisse im Monat, fragen plötzlich 200 Kolleg*innen gleichzeitig an und können teilweise nicht verstehen, wieso ihr Antrag nicht sofort bearbeitet wird.

Das HR-Team wird mit vielen Detailfragen bombardiert. Hier hilft es, die  zu schützen, indem so viele allgemeine Infos wie möglich zur Verfügung gestellt werden und Kolleg*innen sich in „fachfremde“ Details einarbeiten, damit auch solche die keine „Experten“ sind einen First Level Support bieten können. Die Expert*innen (z.B. Kolleg*innen in der Gehaltsabrechnung, Arbeitsjurist*innen) sind in wirklich zeitkritische Themen eingespannt, die nur sie bearbeiten können.

Unsere Lehre: Prozesse spontan verschlanken (z.B. nur eine statt zwei Unterschriften, etc.), damit es beispielsweise bei der Ausstellung von Dokumenten  keine Verzögerungen gibt. Die Geschwindigkeit, die es manchmal braucht, ist nicht zu gewährleisten mit langwierigen ‚das haben wir immer so gemacht‘ Prozessen. Es gilt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

In einer Insolvenz wird von HR jede/r gebraucht. Auch wenn, wie bei Wirecard, die Insolvenz dann doch in eine weitestgehende Auflösung der Organisation führt, die Erfahrungen solcher Wochen sind prägend und wertvoll. Sie zeigen, wie essentiell Human Resources in einer Krisensituation sein kann. Hierfür bedarf es eines neuen Selbstverständnisses für die eigene Profession bei dem das administrative Korsett abgelegt werden muss.

 

Annegret Jansen
Head of Learning and Development bei Wirecard (ehem.)

Alexander Gisdakis
Geschäftsführer und Partner bei Breitenstein Consulting