Wie sieht die HR-Arbeit der Zukunft aus?
Im HR BarCamp am 24.10. haben wir mit HR-Leitern verschiedener Unternehmen über die zukünftige Rolle von HR nachgedacht. Und dabei den Gedanken entwickelt, dass es zukünftig zu einer radikalen Individualisierung von Beschäftigungsbedingungen kommen könnte. Diesen Gedanken haben wir hier einmal konsequent weitergedacht. Was käme dann auf HR für eine neue Rolle zu?
Was bräuchte es, um diese Strategie erfolgreich fahren zu können?
De-Industrialisierung als Langzeit-Trend
Werfen wir einen Blick zurück auf die Wurzeln der HR:
Eine Voraussetzung für den industriellen Aufstieg von HR als Funktion war die Standardisierung von Beschäftigungsbedingungen. Gleicher Lohn, gleiche Arbeitszeiten und gleiche Arbeitsbedingungen lieferten die Planbarkeit und Synchronität die es zur effizienten Massenproduktion brauchte.
Arbeitsordnungen waren strikt, die Rollenvielfalt wurde stark kontrolliert, Tarifsysteme waren überschaubar und Organisationsstrukturen ähnelten den Hierarchien des Militärs: effizient, effektiv und schlagkräftig.
Human Resources war der Sachwalter dieses Ordnungssystems – ab den 70er Jahren auch als Mittler zwischen den Tarifparteien und den Mitbestimmungsgremien. Aber Hauptaugenmerk lag – wenn wir ehrlich sind – auf der‚Be-Rechenbarkeit‘ der Arbeitsleistung und der Arbeitskosten. Sie waren die Grundlage wirtschaftlichen (und gesellschaftlichen!) Fortschrittes und Wohlstandes.
Job Profile, Eingruppierungen, Entgeldsysteme, Stechuhren, Teilzeit, Beförderungsrichtlinien, Stellenpläne, Kopfzahlbudgets, Orientierungswerte, Zielsysteme, Kompetenzlisten, dress codes – all das ist Ausdruck eines fairen und überschaubaren Ordnunssystems.
Gesetzliche Rahmenvorgaben wie Urlaubsschutzgesetz, Lohnstandswahrung, Tarifbindung, Arbeitszeitgesetzgebung lieferten dafür die Grundlage.
Viele PersonalleiterInnen fühlten sich zu allererst als Hüter dieser Systeme – Stichwort ‚Governance‘. Mit all den Folgen für Identität und Haltung die man als PersonalerIn mitbringen musste. Das war ein wesentlicher Teil unseres Wertbeitrages: das Gut‘ menschlicher Arbeit musste maximal normiert und zu Marktpreisen zu Verfügung gestellt werden.
Aber wenn man ehrlich ist, spüren wir schon seit vielen Jahren den Druck, diese starren Systeme flexibler zu machen: Vertrauensgleitzeit, flachere Hierarchien, Abschaffung von ‚ranks & titles‘ waren schon seit den 90er Jahren Ausdruck einer De-Industrialisierung von Beschäftigungsbedingungen.
Die Richtung dieser Entwicklung ist eine zunehmende Individualisierung und Flexibilisierung:
Vertrauensarbeitszeiten, flexible Gehaltsbänder, Komplexe dynamische Joblandkarten, Kompetenzkataloge, etc. haben bereits vor Jahren eine De-Industrialisierung des Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung eingeleitet.
Viele Start-ups haben da den Industrieunternehmen manche KandidatIn weggeschnappt, und die nach Individualität strebenden GenY’ler damit angezogen, weil keine Stechuhr und kein starres Rollenprofil da war oder, weil man seinen Hund mitbringen durfte.
Die zunehmende Digitalisierung vieler Geschäftsmodelle und damit veränderte Rollen zwangen und zwingen zur Veränderung klassischer Industrieller Organisation von Arbeit.
Die Agilitäts-Debatte der vergangenen 5 Jahre hat die Spirale nur eine weitere Ebene nach oben gedreht:
Komplexe, kreative Produktanforderungen waren nicht mehr in stark industriell standardisierten ‚Funktionen‘ leistbar. Flexible Rollen in wechselnden Teams, maximale Autonomie und kollektive Entscheidungsprozesse, flache oder keine Hierarchien, Selbststeuerung, Ownership als Ideal, Räume für Individuelle Entfaltung, work-life-Integration, Holocracy, MBO statt Arbeitszeiterfassung, SCRUM statt Vorgesetze, Entfaltung, Purpose und intrinsische Motivation als Konzepte – all das ist Ausdruck einer zunehmenden Individualisierung Flexibilisierung von Beschäftigungsbedingungen. Trotzdem haben die meisten Unternehmen noch die alten Ordnungsrahmen mit Job Profilen, Eingruppierungen, Funktionsebenen, Tarifverträgen und meist gegossen in einen Wust an Betriebsvereinbarungen, die auch noch mühsam mit den Betriebsräten verhandelt wurden. Innerhalb dieser Grenzen hat sich gefälligst alles im ‚Betrieb‘ abzuspielen.
Home Office öffnet eine Türe in eine neue Dimension
Man könnte jetzt einfach sagen:
Jetzt kommt halt noch neben dem Recht auf Urlaub ein Recht auf ein paar Tage home office dazu – na und?
Hubertus Heil denkt ja bereits darüber nach. Ist Home Office einfach nur ein weiteres Privileg auf der Arbeitnehmerseite das man betrieblich gestalten muss? Wir denken es kommt und ist viel mehr! Mit dem Schritt in Richtung Etablierung von Home Office geht eine ganz besondere Türe in unserer post-industriellen Entwicklung auf, die weitreichende Konsequenzen für die Organisation von Arbeit und damit für die Rolle von HR im Besonderen haben wird:eine große Chance für HR und Unternehmen. Die oben beschriebenen Ordnungssysteme sind fast alle gebunden an den ‚Ort‘ Betrieb. Man verlässt diesen Rahmen, wenn man das Unternehmen verlässt. Zynisch könnte man sagen: dafür gibt es ja die ‚Unrast‘.
Mails Zuhause beantworten gibt es schon lange. Ein flächendeckendes Home Office stellt jedoch ganz neue Fragen an einen möglichen Ordnungsrahmen:
- Wer kann/darf überhaupt wieviel zu Hause Arbeiten? Wer nicht? Ist das ein Privileg?
- Welche Tätigkeiten sind überhaupt (für wen) für Heimarbeit geeignet – welche nicht?
- Wer hat überhaupt die Möglichkeiten zu Hause (technisch, räumlich, ..)?
- Wie passt man Arbeit an wechselnde Lebensphasen und Lebensverhältnisse an?
- Wie funktioniert Leistungserfassung, wie wird Performance bewertbar, wenn nicht mehr durch aktive Anwesenheit?
- Wie verhindert man Entgrenzung von Arbeit und schützt Mitarbeiter?
- Wie führt man virtuelle Arbeit/virtuelle Teams?
- Wie merkt man rechtzeitig, wenn jemand abrutscht, sich entzieht?
- Wie schafft man Räume für Kollaboration – wo ist virtuell sinnvoll, wo ist persönlich nötig?
- Wie schafft man Vernetzung, wie Learning on the Job, wie kollegiale Beratung?
- Wie erkennt man Konflikte, Überarbeitung, Entgrenzung von Arbeit, Innere Immigration?
- Wie entsteht Bindung an den Arbeitgeber – wennräumliche Nähe fehlt?
- Was ist überhaupt zu Hause – nah am Arbeitsort?
- Womöglich auch in der Ferienwohnung? Möglicherweise im Ausland?
- Der Frage nach dem Ausland schließen sich dann Fragen wie Sozialversicherung, Steuer, Betriebsstätte und zuständiges Arbeitsrecht an
Diese lange Liste macht deutlich, dass es wahrscheinlich kein betriebliches Ordnungsystem gibt, dass nicht von einer dieser grundlegenden Fragen betroffen sein wird.
Home Office öffnet eine Türe und erzwingt einen Neuanfang in der betrieblichen Organisation von Arbeit. Und zwar weit über die Frage nach Versicherungs- und Gesundheitsschutz oder Leistungsbewertung hinaus. Das zu verändern und sowohl Workplaces als auch Workforce den notwendigen Quantensprung an Veränderung zu verpassen ist eine ordnungspolitische Aufgabe von HR der nächsten Jahre. Was es braucht ist ein neues flexibles, dynamisches Regelsystem UND den dazu notwendigen Kulturwandel.
Was, wenn man das mal wirklich zu Ende denkt?
HR muss dabei nicht nur Beschäftigungsbedingungen neu erfinden – sondern auch sich selbst:
Wenn man diesen Trend zur Individualisierung konsequent zu Ende denkt, landet man bei einer maximal flexibilisierten Struktur in der Beschäftigungsbedingen, die den konkreten Anforderungen der Rolle und den Bedürfnissen des/der Mitarbeiters/In individuell angepasst werden. Dabei tun sich eine Fülle an Stellschrauben auf, die man drehen könnte:
- Rolle(n) und geforderter Wertbeiträge und EntscheidungsspielräumeNotwenige Einbindung in physische oder Digitale Arbeitsprozesse und Arbeitsmittel
- Notwenige Vernetzung in der Organisation mit Kollegen, Stakeholdern, Kunden
- Sich daraus ergebende Präsenzanforderungen (Mindeststandards, Spielräume)
- Ziele, Messkriterien, Dimensionen von Erfolg und Leistung
- Anforderung an Führung und Zusammenarbeit
- Compensation und Benefits die fair und wettbewerbsfähig sind
- Gleichzeitig gibt es auf Seiten der MitarbeiterInnen eine Reihe von Aspekten in Betracht zu ziehen:
- Erforderliche persönliche Eigenschaften, Werte, Haltung, soziale Fähigkeiten und Talente
- Methodische und fachliche Kompetenzen/Erfahrungen und Weiterentwicklung
- Persönliche Lebensverhältnisse, privater Kontext, Lebensphasen, Planbarkeit?
- Entwicklungserwartungen, Unterstützungsbedarf
Gibt es einen flexiblen Ordnungsrahmen, in dem sich wie in einem Cafeteria-System flexibel Beschäftigungsbedingungen auf die individuellen Bedürfnisse der Person und der Rolle zusammenbasteln lassen?
Der Mensch vergleicht sich gerne
Eine positive Funktion der alten Ordnungssysteme war auch Gerechtigkeit. Ein starrer Rahmen mit Funktionen und Entgeldsystemen stellt ein gewisses Maß an Fairness her. Wie verhindert man bei einer maximalen Flexibilisierung dass sich Standards gegenseitig hochschaukeln? Zumal immer noch das Gebot von Lohnstandswahrung gilt? Wie erzeugt man Flexibilisierung wenn Standards (Geld, Heimarbeit, Zeitflexibilität, ..) einmal errungen, nicht mehr zurück drehbar sind? Kann es eine/n Gatekeeper/In geben, der/die, bei dynamischer Veränderung, situativ Privilegien geben und wieder entziehen kann?Würde man so etwas dem freien Spiel der Kräfte überlassen? Lässt man das die Führungskräfte selbst entscheiden?
Wir glauben hier entsteht ein ganz neue Verantwortungsfeld für Human Resources:
Die Rolle eines Treuhänders zwischen den kurz- und langfristigen Interessen einer Organisation und den Interessen und Bedürfnissen des/der einzelnen Mitarbeiters/In. Das war zwar schon immer so, aber ein starres Gerüst and Beschäftigungsbedingungen hat HR dabei vor wilden Verhandlungen geschützt. Bloß keine Präzedenzfälle kreieren! Was, wenn es in Zukunftein individuelles Verhandeln von Rahmenbedingungen für eine Tätigkeit innerhalb eines flexiblen Ordnungsrahmens gäbe? Wie in einem Equalizer im Tonstudio werden die Beschäftigungsbedingungen inmehreren Dimensionen an die Bedarfe von Individuum und Organisation angepasst. Und bei Bedarf (geänderte Anforderungen, Lebensverhältnisse) auch permanent weiter adjustiert. Und: Bei einem Rollenwechsel müssen idealerweise Zugeständnisse auch wieder zurückgenommen werden können.
Was braucht Human Resources dafür?
Eine solche treuhänderische Entscheidungs- und Gestaltungsrolle in einem dynamischen System auszufüllen ist keine einfache Herausforderung:
- HR der Zukunft braucht ein sehr tiefes Geschäftsverständnis, denn es müssen auch Veränderungen in Strategie und Geschäftstätigkeit in veränderte Anforderungen an Rollen und Kompetenzen übersetzt werden. Man kann ja kein Standard-Jobprofil mehr aus der Tasche ziehen.
Ein kontinuierlicher Austausch mit Führungskräften ist damit Grundvoraussetzung.
- Die gleiche Nähe zu den Mitarbeitern/innen. Veränderungen der individuellen Lebensverhältnisse, Fähigkeiten müssen wahrgenommen werden. Ist jemand weggezogen? Gibt es familiäre Verpflichtungen? Oder: gibt es keinen Platz mehr im Home Office?
Dazu braucht es Empathie und Fähigkeit Vertrauen aufzubauen
- Ein Treuhänder muss aber auch Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und Entscheidungskompetenz für das Gesamtsystem haben. Und auch schmerzhafte Entscheidungen im Sinne des Ganzen durchsetzen, ohne sich auf einen Ordnungsrahmen berufen zu können. Etwa wenn es darum geht Besitzstände wieder zurück zu nehmen. Oder wenn es darum geht, mit Betriebsräten den Ordnungsrahmen zu verhandeln. Das erfordert Standhaftigkeit und, im Übrigen, sehr fähige Betriebsräte, die ihrerseits ohne gewerkschaftlichen methodischen Rückhalt kaum ihrem Mandat gerecht werden könnten.
- In einem solchen flexiblen Ordnungssystem kann man sich nicht mehr so leicht auf existierende Rahmenbedingungen rausreden wie früher. Man muss inhaltlich argumentieren und Gesamt- gegen Einzelinteressen abwägen im Sinne der Gesamtorganisation. Hier braucht es Empowerment durch die Geschäftsleitung.
- Es braucht ausgeprägte beraterische Kompetenzen: die richtigen Fragen stellen können, Fähigkeit zum Perspektivwechsel, sich schnell in unterschiedliche Umstände einarbeiten zu können, Empathie.
- Eine solche treuhänderische Rolle, die im Einzelfall Beschäftigungsbedingungen entwickelt und anpasst, benötigt voraussichtlich mehr Ressourcen als in der Vergangenheit. Flexible Systeme benötigen immer mehr Betreuungsaufwand als Monokulturen von standardisierten Beschäftigungsbedingungen.
- Dabei werden digitale Tools sicherlich viel administrative und sicher auch analytische Arbeit abnehmen können. Die neuen KI-getriebenen HR-Suiten sind möglicherweise sogar eine Voraussetzung, um ein solches flexibles System und die neue Rolle von HR überhaupt effektiv ausüben zu können. Nur: das Beraten und treuhänderische Abwägen und Entscheiden von individuellen Beschäftigungsbedingungen in vielen Dimensionen kann keine Maschine leisten. Da braucht es Erfahrung, Urteils- und Entscheidungsvermögen.
Den Weg in eine solche neue Arbeitswelt zu gestalten erfordert ausgeprägte Change-Management Kompetenzen. Die neue HR-Rolle auszuprägen, empfinden wir als hochspannend und wertvoll.
Es ist eine Aufwertung von HR-Arbeit. HR stünde am Mischpult – und wäre bei seinem ‚Ur-eigenstem‘ angekommen!